Demenzfreundlich - bitte wie?

Prämisse

Publikationen und Beiträge zum Thema Demenz sind umfangreich auf dem Markt vorhanden, das Thema bewegt viele Menschen. Diese Rubrik zeigt eine ewig unvollständige Auswahl von interessanten Gedanken, Texten und Filmbeiträgen, die wir für inspirierend halten oder zumindest für lesens- und hörenswert. Die Inhalte sind durchaus mit unserer Haltung vereinbar.

Polypharmazie

Über die Gefahren der Polypharmazie – der gleichzeitigen, andauernden Einnahme mehrerer Medikamente – berichtet Daniela Egger in ihrem Beitrag in Demenz – das Magazin.

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demenz-magazin.de

Technische Hilfe bei Demenz

Menschen mit Demenz nutzen vermehrt technische Hilfsmittel, als Orientierungshilfe oder um die Sicherheit zu Hause zu gewährleisten. Bedienerfreundliche Telefone mit großen Tasten erleichtern etwa die Kommunikation zu Angehörigen, Herdplatten-Sensoren sorgen für Brandschutz, Sturzmatten vor dem Bett holen Hilfe in der Not. Die Angebotspallette ist schon jetzt vielfältig.

Dort, wo technische Unterstützungsprogramme die Selbstständigkeit für Menschen mit Demenz verlängern kann, lauert aber auch die Möglichkeit, die Begegnung der menschlichen Betreuung zu reduzieren. Eindrucksvoll war etwa die Vorführung auf einem Demenz-Kongress in St. Gallen, bei dem eine Theatertruppe den Einsatz eines fahrenden Monitors in unterschiedlichen Situationen vorführte. Der Schauspieler spielte einen Mann mit einer demenziellen Entwicklung, noch gut imstande, sich alleine zu Hause zu bewegen und aber ständig überwacht von seiner besorgten, im Ausland lebenden Schwester, die mit ihm per livechat mehrmals täglich Kontakt hielt. Der Monitor fuhr an einem einfachen Gerät befestigt in der Wohnung herum, gesteuert von der fernen Schwester, die sich auf diese Weise online mit ihrem Bruder unterhalten konnte. So saß sie etwa mit ihm am Frühstückstisch, wie sie selbst behauptete. Zu sehen war ein alleine am Tisch sitzender Mensch, während das Gesicht der Schwester auf dem Bildschirm ihm gegenüber einen halben Meter über der Tischplatte schwebte. Ihre Unterhaltung wurde immer einsilbiger, denn er vermisste ihren Besuch. Besuch, der körperlich anwesend mit am Tisch sitzt. Wegen der technisch zuverlässigen Überwachung seiner körperlichen Funktionen hatte die fiktive Dienststelle der Mohi-Mitarbeiterin die Besuchszeiten auf ein Minimum reduziert – der fahrende Hausgeselle lieferte die nötigen Daten regelmäßig an die Zentrale. Schmerzhaft spürbar war die Vereinsamung des Mannes, wenn auch nur von einem Schauspieler verkörpert, der aber danach im Gespräch von seinen Erfahrungen berichtete. Eine mögliche Zukunftsvision oder doch nur Schreckgespenst? Angesichts der Unmengen finanzieller Mittel, die in die Forschung und Entwicklung technischer Innovationen im Bereich der Pflege investiert werden, sind skeptische Fragen sicher erlaubt. Solche Hilfsmittel können dafür sorgen, dass ältere Menschen ihre Selbstständigkeit länger bewahren. Sie dürfen aber nicht dazu führen, dass der ganz normale, menschliche Kontakt sich weiter reduziert. Die Einsamkeit im Alter ist ein großes Thema unserer Zeit und sie wird häufig verantwortlich gemacht für den Beginn einer Demenz. Jetzt ist die Zeit, in der Richtlinien für den Einsatz der Unterstützungsmöglichkeiten definiert werden müssen, damit wir nicht plötzlich vor vollendeten Tatsachen stehen – die Betreuung und Pflege von älteren Menschen mit oder ohne Demenz gehört in erster Linie in die Hände von Menschen. Technik soll in der zweiten Reihe eine wertvolle Unterstützung liefern. Für die Aktion Demenz sind ethische Richtlinien in diesem Bereich ein Zukunftsthema, dem wir möglichst früh mit Sensibilisierung begegnen wollen.

Weiterführende Informationen unter www.aktion-demenz.de

Daniela Egger

Demenzfreundliche Kommune als kreativer Hexenkessel neuer Einfälle

Mein Plädoyer ist also: Finden wir uns nicht ab mit der diagnostischen Betonierung der Demenz! Lasst uns nicht mit dem Nachdenken über Demenz aufhören! Wir holen uns das „Brodeln“ zurück, das die Demenz als ein rätselhaftes, herausforderndes Phänomen zu begreifen erlaubte. Wir sagen: Wir sind mit der Demenz noch nicht fertig. Und den Bürgerinnen und Bürgern – der Zivilgesellschaft also – wird vielleicht noch vieles dazu einfallen, was die Menschen mit Demenz uns erzählen über sich und die Welt, in der wir leben. Die demenzfreundliche Kommune darf nicht zur technokratischen Planungsaufgabe verkümmern, sondern sollte ein kreativer Hexenkessel neuer Einfälle sein.

Die Gefahren, die eine medizinische Verkrustung des Demenzphänomens und ihre Domestizierung in Demenzstrategien mit sich bringt, liegen auf der Hand. Wir leben in einer Zeit, in der der Sozialstaat schrumpft. In einer Zeit, in der die Differenzen zwischen reich und arm wachsen, in einer Zeit bröckelnder sozial-wärmender Milieus, in einer Gesellschaft, die sich immer ausschließlicher aus dem Leistungsimperativ heraus versteht. Diese Entwicklungen spiegeln sich in der Demenzfrage wider. Reiche und arme Menschen mit Demenz geraten immer deutlicher in unterschiedliche Versorgungslagen. Menschen, die nichts mehr leisten – wie die Menschen mit Demenz – sind in der Gefahr systematisch marginalisiert zu werden; und Menschen mit Demenz sind von Einsamkeit und emotionaler Unterversorgung betroffen.

Die Richtung, in die wir gehen müssen, ist klar vorgegeben: Wiederaufbau von Nachbarschaft, kritische Reflexion über Einsamkeit, zivilgesellschaftlicher Aufbruch.

Reimer Gronemeyer, 2018